{"id":714,"date":"2024-01-25T06:43:27","date_gmt":"2024-01-25T06:43:27","guid":{"rendered":"https:\/\/paulo-freire-kooperation.de\/?p=714"},"modified":"2024-01-25T06:43:29","modified_gmt":"2024-01-25T06:43:29","slug":"massaker-im-sueden-israels-vernichtung-der-hamas-im-gazastreifen-wiederholen-sich-katastrophen-ein-befreiungspaedagogischer-aufriss","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/paulo-freire-kooperation.de\/massaker-im-sueden-israels-vernichtung-der-hamas-im-gazastreifen-wiederholen-sich-katastrophen-ein-befreiungspaedagogischer-aufriss\/","title":{"rendered":"Massaker im S\u00fcden Israels\/,,Vernichtung der Hamas\u201c im Gazastreifen: Wiederholen sich Katastrophen? Ein befreiungsp\u00e4dagogischer Aufriss*?"},"content":{"rendered":"\n

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Heinz Peter Gerhardt <\/strong><\/p>\n\n\n\n

Heiner Zillmer<\/strong><\/p>\n\n\n\n

In seinem epochemachenden Werk \u201eP\u00e4dagogik der Unterdr\u00fcckten\u201c schrieb Paulo Freire (1971: 37):<\/p>\n\n\n\n

\u201cMit der Schaffung von Unterdr\u00fcckungsverh\u00e4ltnissen hat die Gewalt bereits begonnen. Noch nie in der Geschichte wurde die Gewalt von den Unterdr\u00fcckten initiiert. Wie k\u00f6nnten sie die Initiatoren sein, wenn sie selbst das Ergebnis von Gewalt sind? (\u2026.) Es g\u00e4be keine Unterdr\u00fcckten, wenn es nicht zuvor eine Situation der Gewalt gegeben h\u00e4tte, um ihre Unterwerfung zu begr\u00fcnden. Die Gewalt wird von denen initiiert, die unterdr\u00fccken, die ausbeuten, die andere nicht als Personen anerkennen \u2013 nicht von denen, die unterdr\u00fcckt, ausgebeutet und nicht anerkannt werden.\u201d Freire pr\u00e4zisiert aber klar, \u201eSoll dieser Kampf (um Befreiung, d. V.) einen Sinn haben, dann d\u00fcrfen die Unterdr\u00fcckten bei ihrem Versuch, ihre Menschlichkeit wiederzugewinnen (als Mittel, um sie zu schaffen), nicht ihrerseits Unterdr\u00fccker der Unterdr\u00fccker werden, sondern sie m\u00fcssen vielmehr die Menschlichkeit beider wiederherstellen. Das also ist die gro\u00dfe humanistische und geschichtliche Aufgabe der Unterdr\u00fcckten: sich selbst ebenso wie ihre Unterdr\u00fccker zu befreien.\u201c (S. 22)<\/p>\n\n\n\n

Wie k\u00f6nnen wir zu dieser Aufgabe beitragen, vor dem Hintergrund zweier Kriegsparteien, die jeweils f\u00fcr sich reklamieren, \u201aBefreiungsbewegung\u2018 zu sein?<\/p>\n\n\n\n

Um 1800 lebten etwa 5000 Menschen j\u00fcdischen Glaubens in Pal\u00e4stina. Eine verst\u00e4rkte j\u00fcdische Migration nach Pal\u00e4stina aufgrund von Pogromen in Osteuropa Ende des 19. Jahrhunderts und schlie\u00dflich im 20. Jahrhundert vor, w\u00e4hrend und nach dem Holocaust lie\u00df diese Zahl kontinuierlich anwachsen.<\/p>\n\n\n\n

Diese Migration geschah bis zum ersten Weltkrieg in ein Gebiet unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches in Rahmen der ersten<\/p>\n\n\n\n

\u201cAlija\u201d (Hebr\u00e4isch: Aufstieg\/ Auswanderung) weitgehend friedlich. In Verhandlungen mit den zionistischen F\u00fchrern der Zeit wurden sogar Privilegien gew\u00e4hrt, wie zum Beispiel die Erlaubnis hebr\u00e4ische Schulen zu \u00f6ffnen und eine j\u00fcdische Miliz zu bilden.  Erst nach Ausbruch des 1. Weltkrieges und nach der 2. Alija, der \u201cAlija Bet\u201d (1934 \u2013 1948), wurden die j\u00fcdische Einwanderung vermehrt als eine feindliche und subversive Bewegung angesehen, deren territoriale Anspr\u00fcche sogar die Unterst\u00fctzung einer Gro\u00dfmacht gefunden hatten:  In der Balfour Erkl\u00e4rung von 1917 erkl\u00e4rte sich Gro\u00dfbritannien mit dem Ziel der Zionisten einverstanden, in Pal\u00e4stina eine nationale Heimstatt f\u00fcr Juden einzurichten.<\/p>\n\n\n\n

Im Jahre 1897 hatte es auf den ersten Zionisten Kongress  bereits Diskussionen um die Etablierung einer j\u00fcdischen Staatlichkeit in Pal\u00e4stina gegeben. Die Zionisten wollten sich von der Unterdr\u00fcckung in ihren Diaspora Staaten, insbesondere Deutschland (Hofprediger Adolf St\u00f6cker, Historiker Heinrich von Treitschke z.B.) und Frankreich (Dreyfus Aff\u00e4re) \u201abefreien\u2018. Denn auch nach der Aufkl\u00e4rung und der so genannten \u201eJudenemanzipation\u201c dauerte die Unterdr\u00fcckung an.<\/p>\n\n\n\n

Die bereits w\u00e4hrend des ersten Weltkrieges beginnende Neuordnung des Osmanischen Reiches war f\u00fcr die zionistische Bewegung die M\u00f6glichkeit, diesem Ziel n\u00e4her zu kommen.<\/p>\n\n\n\n

Im Jahre 1918 lebten nach Z\u00e4hlungen der britische Milit\u00e4rregierung 573.000 Araber (davon 10 % Christen) und 66.000 Juden (circa 10,3 % der Gesamtbev\u00f6lkerung) in Pal\u00e4stina. 1936 hatte sich das Verh\u00e4ltnis nach massiver Einwanderung aufgrund des Aufstiegs des Nationalsozialismus bereits deutlich ver\u00e4ndert: 955.000 Araber (davon circa 12 % Christen) und 370.000 Juden, 27 % der Gesamtbev\u00f6lkerung (Philipp 2008). Diese Gemengelage f\u00fchrte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zum bewaffneten Kampf zwischen einheimischen Pal\u00e4stinensern und der im Laufe der Jahrzehnte zugewanderten Migranten j\u00fcdischen Glaubens. Die bereits para- milit\u00e4risch organisierten Siedler und Neuank\u00f6mmlinge gewannen bei diesen Auseinandersetzungen zusehends die Oberhand und die Vertreibung der arabischen Bev\u00f6lkerung beschleunigte sich. Sie ging als \u201eNakba\u201c (Arabisch: Katastrophe) in die pal\u00e4stinensische Geschichtsschreibung ein. Sie dauert bis heute an. Mit dem f\u00fcnften Gaza Krieg beschleunigt sie sich zurzeit.<\/p>\n\n\n\n

Eigentlich sah der Teilungsplan der Vereinigten Nationen von November 1947 eine Zweistaatenl\u00f6sung f\u00fcr Pal\u00e4stina vor: Zwei Staaten verbunden entweder durch eine Wirtschaftsunion oder im Rahmen eines Bundesstaates mit einem arabischen und j\u00fcdischen Teilstaat.  Im Mai 1948 erfolgte dann jedoch sehr schnell die israelische Staatsgr\u00fcndung. Nach dem Ersten Arabisch \u2013 Israelischen Krieg, der daraufhin ausbrach, wurden an die 700.000 Pal\u00e4stinenser staatenlos. An die 40 % des von der UN eigentlich f\u00fcr die Pal\u00e4stinenser vorgesehenen Gebiete wurden vom neu gegr\u00fcndeten Staat Israel annektiert.<\/p>\n\n\n\n

Sp\u00e4testens zu diesem Zeitpunkt kann man also von einer systematischen Unterdr\u00fcckung der Pal\u00e4stinenser durch Organe des j\u00fcdischen Staates sprechen. Der Erfahrungsraum der Pal\u00e4stinenser in Bezug auf diesen Staat, seine Verwaltung, sein Milit\u00e4r, seine Gerichte und insbesondere seiner weiterhin sich ausbreitenden messianischen, teilweise sozialistischen Siedlergemeinschaften ist einer der fortschreitenden Unterdr\u00fcckung und der Einengung des Lebensraumes der einheimischen Bev\u00f6lkerung. Auch die im israelischen Staatsgebiet lebenden Pal\u00e4stinenser, israelische Staatsb\u00fcrger, wurden und werden einem diskriminatorischen Rechtssystem unterworfen (Bard 2023).<\/p>\n\n\n\n

Die einheimischen Pal\u00e4stinenser, sei es w\u00e4hrend des Osmanischen Reiches sei es w\u00e4hrend der Zeit des britischen Mandatsgebiets, schufen erst sp\u00e4t eigene zivile und milit\u00e4rische Organisationen, um gegen die zunehmende Einengung ihres Lebensraums Widerstand zu leisten. Ein staatlich verfasstes Verwaltungsgebiet Pal\u00e4stina existierte im Osmanischen Reich nicht. Erst die britische Milit\u00e4rverwaltung richtete das Mandatsgebiet Pal\u00e4stina ein. Und erst 1923 wurden die Grenzen Pal\u00e4stinas von den Siegerm\u00e4chten des ersten Weltkrieges festgelegt.<\/p>\n\n\n\n

Die heute bekannteren zivilen, politischen und milit\u00e4rischen Organisationen auf Seiten der arabischen Bev\u00f6lkerung (PLO und Hamas) und ihre historischen Vorl\u00e4ufer waren allesamt nicht in der Lage, aus eigener Kraft eine eigene Staatlichkeit zu entwickeln. Die heutige pal\u00e4stinensische Autonomiebeh\u00f6rde ist die vorl\u00e4ufige Selbstverwaltung der Pal\u00e4stinenser in den Gebieten, Westjordanland und Gazastreifen. Sie ist aus den Friedensverhandlungen (ab 1993) zwischen Israel und der Pal\u00e4stinensischen Befreiungsfront (PLO) in Oslo hervorgegangen. Sie hat nur begrenzte Kompetenzen und Souver\u00e4nit\u00e4t, die von Israel kontrolliert und seit Jahren immer mehr eingeschr\u00e4nkt werden. Einen eigenen Staat Pal\u00e4stina hat die PLO 1988 in Algier (!) ausgerufen (Hauptstadt Jerusalem). Er umfasst das gesamte von Israel seit 1967 besetzte Gebiet. Dieser Staat wird von 138 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anerkannt. Deutschland tat dies nicht. Es pflegt aber offizielle Beziehungen zur Autonomiebeh\u00f6rde im Range eines Botschafters, der in der deutschen Botschaft in Tel Aviv (!) residiert.<\/p>\n\n\n\n

Flugzeugentf\u00fchrungen, Attentate, kriegerische Auseinandersetzungen und zuletzt das Gemetzel vom 7. Oktober 2023 der \u201cHamas\u201d (Arabisch: Begeisterung, Kampfgeist) im S\u00fcden Israels sind historische und aktuelle Versuche, die Aufmerksamkeit f\u00fcr das Schicksal der Araber in diesem Gebiet aufrecht zu erhalten. Wut und Hass auf Israel und seine Bewohner kennzeichnen diese Aktionen. Sie l\u00f6sten und l\u00f6sen weltweit Entsetzen aus und verst\u00e4rken die Repression der Staats \u2013 und Besatzungsgewalt. Auf der israelischen Seite verh\u00e4rteten sich insbesondere nach dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses die Positionen. Der Konflikt wurde seitdem nur noch \u201everwaltet\u201c.<\/p>\n\n\n\n

Mitglieder der heutigen, teilweise rechtsradikalen Regierung Israels, insbesondere die Parteien der Siedlergemeinschaften, sprechen offen von der Vertreibung der \u201cFeinde Israels\u201c aus dem israelischen Staatsgebiet und aus den 1967 von Israel besetzten pal\u00e4stinensischen Restgebieten. \u201cEretz Israel\u201d soll geschaffen werden.<\/p>\n\n\n\n

\u201eEretz Yisrael\u201c (Hebr\u00e4isch: Erde Israels) und ein Islamischer Staat in den Grenzen des ehemaligen britischen Mandatsgebietes, das \u201eStaats\u201c-Ziel der Hamas, bzw. ein PLO Staat Pal\u00e4stina, schlie\u00dfen sich gegenseitig aus. Ohne Verst\u00e4ndigung wird es nicht gehen, wenn sich die Katastrophen der jeweiligen nationalen Geschichten nicht in Dauerschleifen wiederholen sollen,<\/p>\n\n\n\n

Das menschliche Leben im hoch ger\u00fcsteten j\u00fcdischen Staat ist hoch gef\u00e4hrdet, wie das abscheuliche Massaker vom 7. Oktober zeigt. Er, seine B\u00fcrger und Menschen j\u00fcdischen Glaubens weltweit werden wegen seiner Art der \u201eVerwaltung der Frage\u201c (Ehud Barak) einer eigenen Staatlichkeit der Pal\u00e4stinenser auch au\u00dferhalb seiner Grenzen angegriffen. Die Art und Weise der Wahrnehmung des Selbstverteidigungsrechts durch die jetzige israelische Regierung nach dem 7. Oktober 2023 scheint die prek\u00e4re Sicherheitslage des Staates, seiner Bewohner und j\u00fcdischer B\u00fcrger weltweit eher zu versch\u00e4rfen als zu verringern.  Tausende von Diaspora- Pal\u00e4stinenser weltweit \u2013 und noch mehr Gleichgesinnte in diesen Staaten \u2013 versuchen durch \u00f6ffentliche Demonstrationen die Frage der Staatenlosigkeit und die Verweigerung R\u00fcckkehrrechts der Pal\u00e4stinenser in die Heimat zu thematisieren.<\/p>\n\n\n\n

Die Befreiungsp\u00e4dagogik ist eine Theorie und Praxis, die zuv\u00f6rderst, von dem brasilianischen Juristen und P\u00e4dagogen Paulo Freire entwickelt wurde. Sie zielt darauf ab, Unterdr\u00fcckte zu bef\u00e4higen, sich kritisch mit ihrer gesellschaftlichen Situation auseinanderzusetzen. Sie basiert auf folgenden Grundannahmen:<\/p>\n\n\n\n