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Dialogische Erziehung 3-4/2021


Heinz-Peter Gerhardt u. Heiner Zillmer Der Lotse geht von Bord

4

Joachim Dabisch Kongress zum 100. Geburtstag Paulo Freires6

Martin Bröking-Bortfeldt Paulo Freire und die Theologie der Befreiung8

Ronald Lutz Befreiende Sozialarbeit15

Joachim Dabisch 25 Jahre Paulo Freire Kooperation26

Christel Adick Warum gerade Freire? − Seine pädagogische und erziehungswissenschaftliche Bedeutung38

Liebe Leserin, lieber Leser,

mit diesem Heft nehme ich als Herausgeber und Redakteur Abschied von der Zeitschrift Dialogischen Erziehung. Zugleich mit der Gründung der Paulo Freire Kooperation wurde diese Publikation ins Leben gerufen. In den bisher 25 Jahren ihres Erscheinens haben zahlreiche Theoretiker und Praktiker Aspekte zur Pädagogik Paulo Freire beigetragen.

Bemerkenswert ist die Aktualität Paulo Freires Neben zahlreichen Veranstaltungen in verschiedenen Ländern hat auch im deutschsprachigen Raum ein internationaler Kongress zum 100. Geburtstag Paul Freires im Oktober an der Universität Salzburg stattgefunden. Der Pandemie geschuldet fand dieser in hybrider Form statt, teilweise in Seminarräumen, teilweise online. An späterer Stelle wird noch ausführlicher darüber berichtet werden.

Dieses Heft ist der Rückschau auf nahezu drei Jahrzehnte Arbeit zu Paulo Freire gewidmet. Aus jedem dieser Zeitabschnitte ist ein Artikel als Reprint gewählt worden, der zugleich eines der drei hauptsächlichen Arbeitsfelder bedenkt: Theologie − Sozialarbeit − Pädagogik und Erziehungswissenschaft:

Martin Bröking-Bortfeldt hatte 1999 einen beeindruckenden Beitrag zur Theologie der Befreiung verfasst.

Ronald Lutz beschrieb 2009 die menschliche Entwicklung in der Sozialen Arbeit, eingebettet in die Idee Paulo Freires.

Christel Adicks Beitrag aus dem Jahr 2019 stellte die Bedeutung Paulo Freires in seiner pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Dimension dar.

Joachim Dabisch

Paulo Freire und die Theologie der Befreiung

Annäherung an die Befreiungstheologie

von Martin Bröking-Bortfeldt ()

Dom Hélder Câmara, seit 1964 katholischer Erzbischof von Recife und Olinda in der brasilianischen Provinz Pernambuco und mit Paulo Freire (1921 in Recife geboren) viele Jahre befreundet, schreibt in seiner Meditation für dies Jahrhundert: „Vorwärts, mein Jahrhundert! Wohne unserer Feier nicht von außen bei. Nimm voll und ganz teil an unserer Danksagung. Entschließe dich ohne Pharisäertum, ohne zu behaupten, das größte und beste zu sein, zu irgendeinem Opfer, aber überschreite die Schwelle des Jahres 2000, indem du den Titel eines ,Jahrhunderts der Befreiung’ verdienst! Weißt du, was ich heute von dir erbitte? Du mögest Hoffnung erwecken, die Jugend mobilisieren und um wachsende Einheit ringen“.1 Am Ende dieses 20. Jahrhunderts, das von Paulo FreiresErziehung als Praxis der Freiheit“2 zumindest berührt, wenn nicht sogar mitbeeinflusst worden ist, fällt es schwer, der hoffnungsüberströmenden Meditation des befreiungstheologischen Erzbischofs Padre Hélder einfach rechtzugeben und diesem in Kürze zu Ende gehenden Säculum den Ehrentitel „Jahrhundert der Befreiung“ zu geben.

Könnte man Paulo Freire nach seiner Einschätzung dieses Jahrhunderts und der Meditation seines Bischofs noch fragen, so würde er diesem in vielerlei Hinsicht zustimmen: „Als Christ ist es unmöglich, neutral zu sein; und als Pädagoge ist es unmöglich, neutral zu sein“3. Was Freire hier in einem Atemzug zum Ausdruck bringt, die Parteilichkeit seines Christseins und zugleich seiner pädagogischen Existenz, ist ein zentrales Kennzeichen der Theologie der Befreiung, die auch Hélder Câmara bestätigt: „Wohne unserer Feier nicht von außen bei!“ Die Feier der Danksagung, der Eucharistie und damit auch des Opfers Christi und der Todesüberwindung durch Ostern4 ist wesentlich für die lateinamerikanische Befreiungstheologie, die sich nicht auf die liturgische Feier der Osterbotschaft innerhalb von Kirchenmauern beschränkt, sondern die Kirchen zu Orten befreiten Bewusstseins – und wo nötig, auch zu Asylorten – macht und zugleich vertraute Kirchenräume verlässt und damit zur staatsgefährdenden Kraft in lateinamerikanischen Diktaturen wurde. Was Paulo Freire ebenfalls genauso unterstreichen würde wie sein Bischof, ist der Hoffnungsimpuls: „Du mögest Hoffnung erwecken!“. Dies hat Freire immer wieder – und erneut mit dem theologischen Rückgriff auf das Osterereignis – zum Ausdruck gebracht und praktiziert: „Dieses Ostern, das zu einem Bewusstseinswandel führt, muss existentiell erfahren werden. Das wahre Ostern ist kein von der Rhetorik beschworener Gedenktag. Es ist Praxis; es ist geschichtliches Engagement. Das alte Ostern der Rhetorik ist tot – ohne Hoffnung auf Auferstehung. Nur in der Authentizität der geschichtlichen Praxis wird Ostern der Tod, der Leben möglich macht“5. Geschichtliche Praxis, die die Heilsgeschichte des Exodus und des Reiches Gottes aus den Schubladen bloßer Vergangenheit herausholt und zu neuem Leben erweckt, ist die Kategorie, an die die Theologie der Befreiung eine Nostalgie-verliebte Christenheit (in vielen Konfessionen und Denominationen!) erinnert hat und immer neu erinnern muss. Diese gefährliche und systemsprengende, weil befreiende Erinnerung sei im folgenden an zwei Beispielen konkretisiert.

Erste Konkretion: Die Bibel in der Sicht der Unterdrückten6

Wie Paulo Freire ist Ernesto Cardenal (1925 in Granada/ Nicaragua geboren) ein lateinamerikanischer Christ katholischer Herkunft: Dichter, Literaturwissenschaftler und seit 1957 Angehöriger des Trappistenordens, 1966 Gründer der christlichen Kommune von Solentiname auf der Insel Mancarrón (Solentiname-Archipel im Nicaragua-See), 1979 Kulturminister in der sandinistischen Regierung des befreiten Nicaragua, 1980 dort Initiator einer Alphabetisierungskampagne und im selben Jahr Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche, 1988 Dichter des Cántico cósmico (Kosmischer Gesang)7 – allein diese wenigen biographischen Stationen deuten schon an, wie ähnlich die Wege beider Befreiungspädagogen und -theologen verlaufen sind.

Ernesto Cardenal ist in Deutschland lange vor der Frankfurter Friedenspreisverleihung durch sein großes Werk Das Evangelium der Bauern von Solentiname8 bekannt geworden, nicht zuletzt deshalb, weil ein ganz neues Verständnis und eine ungewohnte Auslegung der Jesus-Ge-schichten auch – oder gerade – in Mitteleuropa auf offene Ohren traf. Cardenal schreibt zur Entstehung dieses Buches: „In Solentiname, einer abgeschiedenen Inselgruppe im Großen See von Nicaragua mit rein bäuerlicher Bevölkerung, hören wir in der Sonntagsmesse keine Predigt, sondern unterhalten uns ganz einfach über das Evangelium. Die Auslegungen der Bauern sind oft von größerer Tiefe als die vieler Theologen, aber gleich-zeitig von genau so großer Einfachheit wie das Evangelium selbst. Das darf uns nicht verwundern, denn das Evangelium, die gute ‚Nachricht für die Armen’, wurde für sie geschrieben, für Menschen wie sie“9.

Diese Gespräche über das Leben Jesu in Lateinamerika fanden – geopolitisch gesehen – am Rande der bewohnten Erde statt, aber wurden durch ihre Tiefe und Authentizität so etwas wie die neue Mitte der Jesus-Interpretation eines ganzen Kontinents und sogar darüber hinaus. In dem Maße, wie deutlich wurde, dass Jesus in seiner Zeit ganz überwiegend mit den Rechtlosen und Marginalisierten zusammen war und ihnen seine gute Botschaft, das Evangelium vom Reich Gottes der Gerechtigkeit und des Friedens verkündete, so wurde den Menschen in Solentiname und dann auch an vielen anderen Orten deutlich, dass die christliche Botschaft sie selbst ganz zentral betrifft und unmittelbar angeht und die Funktion einer „Importware“ aus Europa längst ver-lassen und überwunden hat. Diese Transformation der christlichen Botschaft hat die weltweite Christenheit, repräsentiert durch den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), ebenfalls schon in den sechziger Jahren wahrgenommen, als sie z.B. in der Botschaft der ÖRK-Vollver-sammlung 1968 in Uppsala/ Schweden zum Ausdruck brachte: „Wir hörten den Schrei derer, die sich nach Frieden sehnen. Die Hungernden und die Ausgebeuteten rufen nach Gerechtigkeit. Die Verachteten und Benachteiligten verlangen ihre Menschenwürde. Millionen suchen nach einem Sinn ihres Lebens. Gott hört diese Rufe und richtet uns. Er spricht aber auch das befreiende Wort. Wir hören ihn sagen: Ich gehe vor euch her. Weil Christus eure schuldhafte Vergangenheit auf sich nimmt, macht der Heilige Geist euch frei zum Dasein für andere. Lebt jetzt schon in meinem Reich in froher Anbetung und in wagemutigem Handeln“10. Diesen weltweiten Aufruf der Ökumene hatte Ernesto Cardenal mit seiner Konkretion einer Theologie der Befreiung zur selben Zeit auf einer im Grunde winzigen Enklave schon mit Leben erfüllt. Das sei an zwei Beispielen dokumentiert.

Ein Gespräch in Solentiname findet über den Johannesprolog (Johannes 1,1-18) statt: „Manuel hat uns den Anfang des Johannesevangeliums vorgelesen. Und jetzt besprechen wir einen Vers nach dem anderen. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Zuerst langes Schweigen. Dann sagt Felipe: – Christus brachte eine Botschaft von Gott, die sehr wichtig für das ganze Volk war, und das soll heißen, dass er das Wort war. Es handelt sich aber nicht um irgendein beliebiges Wort, sondern um ein ernstes Wort, ohne Betrug. Es ist das Wort Gottes, und darum ist es ein wahres Wort. Und dieses Wort kam auf die Welt und blieb dann bei den Menschen. Jetzt spricht Alejandro, der wie Felipe einer der jungen Männer der Gemeinde ist: – Ich glaube, wenn Christus hier ,das Wort’ genannt wird, dann darum, weil Gott sich durch seine Person ausdrückt. Gott drückt sich in ihm aus, um die Unterdrückung anzuklagen, um zu sagen: hier gibt es Ungerechtigkeit, hier gibt es Bosheit, es gibt Arme und Reiche, die Erde gehört einigen wenigen. Und auch um ein neues Leben anzukündigen, eine neue Wahrheit, mit einem Wort: eine soziale Veränderung. Mit diesem Wort befreit Gott den Menschen […]“11.

Ein anderes Gespräch in Solentiname geht auf den Evangelien-Bericht ein, in dem Jesus seinen Tod ankündigt (Matthäus 16,21-23): „Wir lasen am letzten Sonntag, wie Petrus erklärte, dass Jesus der Messias sei, und heute lesen wir, was Matthäus weiter erzählt: ‚Seitdem fing Jesus an, seinen Jüngern zu erklären, er müsse nach Jerusalem gehen und viel unter den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten leiden. Sie würden ihn töten, aber am dritten Tage würde er auferstehen.’ – Ich: Er sagte voraus, dass alle offiziellen Führer des jüdischen Volkes ihn verurteilen würden: die Ältesten des Sanhedrin oder Obersten Gerichtshofes, die Oberpriester und die Schriftgelehrten. William: – Das ist immer so. Wer für das Volk kämpft, weiß, dass er früher oder später dieses Schicksal erleiden wird. Es war immer so, von Jesus an bis in unsere heutige Zeit, und vor Jesus war es den Propheten auch so gegangen. Und die religiöse Obrigkeit verurteilte sie genauso wie die politische. […] Dass er nach Jerusalem geht, bedeutet meiner Meinung nach, dass er eine Konfrontation mit der Obrigkeit sucht. Er hat die Lage gut analysiert und kennt die Folgen genau. Er ist entschlossen, den Boden des Feindes zu betreten […]“12.

Beide Gespräche dokumentieren eine Form von biblischer Alphabetisierung, die Paulo Freire als einen fundamentalen Veränderungsprozess auch bei sich persönlich wahrgenommen hat: „Ich war zum Volk mit einer christlichen Sichtweise gekommen, die verniedlicht und verharmlost. Ich kam mit einer ziemlich durchsichtigen Botschaft, mit einem ziemlich abstrakten Christentum, mit einer Liebesbereitschaft, die nicht Fleisch wurde. Die Notwendigkeit, diese Liebesbereitschaft Fleisch werden zu lassen, die Entdeckung dieser Notwendigkeit ließ mich mein Christsein anders verstehen. Ich würde nicht sagen, ich sei christlicher geworden als vorher, aber ich erkannte, dass mein Handeln als Christ mich politisierte“13. Was Paulo Freire als „gebildeter“ Mensch erst einem Veränderungsprozess unterziehen muss, ist bei den Bauern in Solentiname in ihrer Theologie der Befreiung unmittelbar mit Händen zu greifen: mitten in ihrem Leben und in ihrer Wirklichkeit die Inkarnation, die Fleischwerdung der Botschaft Jesu Christi14, von der Ernst Lange sagt: „Der Satz, der im Mittelpunkt der Bibel steht, heißt: das Wort ward Fleisch. In diesem Satz wird aber nicht allgemein geredet, sondern ganz konkret. In einem Menschen tritt uns die Wahrheit Gottes entgegen, in einem bestimmten Menschen, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit. Jesus ist keine Idee, kein Traum, keine Vision, keine Erkenntnis; Jesus ist ein Mensch, ein bestimmter Mensch mit einem Namen, einer Heimat, einem Beruf, einem bestimmten Herkommen, einem bestimmten Gesicht, ein Mensch. An dieser Feststellung hängt für unseren Glauben alles.“15

Die Gespräche in Solentiname dokumentieren außerdem, was Paulo Freire die Suche nach generativen Wörtern nennen würde, die die Lernenden selbst in ihrer Lebenswirklichkeit entdecken und durch die Meditation der Evangelientexte mit der biblischen Botschaft verknüpfen. Theologie der Befreiung heißt hier, dass Menschen selbst einen Prozess in Gang bringen, durch den sie ihre Situation analysieren und zu verändern beginnen.

Zweite Konkretion: „Sprachschule für die Freiheit“16 – in Lateinamerika und transkontinental

Ernst Lange (1927-1974), deutscher Theologe und Ökumeniker, Ende der sechziger Jahre beim Ökumenischen Rat in Genf tätig und im dortigen Bildungsbüro zeitweilig Kollege Paulo Freires, hat die ausführliche Einleitung dessen bedeutenden Buches Pädagogik der Unterdrückten17 geschrieben. Lange schließt seine Mitte 1971 verfasste Einleitung mit den folgenden Sätzen: „Der kirchliche Leser in Europa wird sich der Argumentation Freires nicht ungestraft entziehen dürfen. Ist das Christentum, ist die Kirche eine Bildungsbewegung, eine Bewegung zur ,Erziehung des Menschengeschlechts’ – und es spricht vieles dafür, dass sie als gesellschaftliche Institution genau dies ist -, dann wird sie, um bei der Sache zu bleiben, ein anderes Verhältnis zur revolutionären Veränderung gewinnen müssen. Was sie braucht, ist nicht eine ,Theologie der Revolution’, als müsse jedes Stichwort, das sie sich bei der Weltentwicklung borgt, alsbald zum theologischen System ausgebaut werden. Was sie braucht, ist die Einsicht in die Logik des Lernprozesses, der mit Abraham einsetzt und den sie fortsetzt: seine Konsequenz ist die immer neue Umwälzung, der immer neue Auszug aus dem Status quo. Die Christenheit ist keine revolutionäre Bewegung, sondern eine Lernbewegung. Aber Lernen – wo es mehr ist als Fütterung – ist ein revolutionärer Vorgang. Aussicht auf Erhaltung des Status quo besteht hinfort nur noch da, wo man Menschen dazu bringt, das Lernen zu verlernen. Und eine Institution zum Verlernen des Lernens wird die Kirche niemals mehr sein dürfen, denn das wäre ihr Ende.“18

Die Theologie der Befreiung hat eindeutig ihren Ort und ihre Zeit: Sie ist auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu Hause und hat ihn in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bis heute entscheidend geprägt: sowohl die konkrete Glaubens- und Lebenspraxis unzähliger Gemeinden, von denen Solentiname in Nicaragua als pars pro toto verstanden werden kann, als auch die pastorale Tätigkeit und Konzeptionsbildung der katholischen Kirche, vieler Priester und Ordensleute in ihren lateinamerikanischen Gliederungen als auch das Wirken einer Reihe von katholischen Bischöfen und Kardinälen, die diese Theologie gegenüber den dortigen Regierungen und gegenüber dem Vatikan mutig verteidigt haben – nicht zuletzt durch ihre Anstrengungen, Alphabetisierungsprogramme an vielen Orten zu ermöglichen und zu fördern. Ernst Lange macht nun in seiner ökumenischen (und nicht in einer allein deutschen oder europäischen) Sichtweise darauf aufmerksam, dass diese lateinamerikanische Theologie der Revolution nicht einfach auf den europäischen Kontinent transportierbar und transformierbar ist. Ebenso können die Befreiungsbewegungen Lateinamerikas und ihr befreiungstheologischer Kontext in Europa bloß zur Kenntnis genommen und „wie Gewürze zu unsern einheimischen Speisen“19 verwendet werden und würden so keine Veränderung bewirken. Worauf Langes Impuls zielt und was er unter dem programmatischen Stichwort Sprachschule für die Freiheit im Anschluss an Paulo Freires Programmatik auch für den europäischen Kontext fruchtbar machen will, ist der Appell, die Christenheit wieder als eine „Bildungsbewegung“ zu entdecken und zu konstituieren. Dieser fortwährende Lernprozess greift das Exodus-Motiv des Alten und Neuen Testamentes als Befreiungs- und Erneuerungsbewegung auf, die vor keiner Institution halt macht – schon gar nicht vor kirchlichen Gliederungen, die von diesen Inhalten ihrer Verkündigung auf ihre zu verändernde Konstitution schließen müsste.

Über dieser Programmatik, die Paulo Freire und Ernst Lange zu verdanken ist, ist erneut ein Vierteljahrhundert vergangen. Im europäischen und speziell im deutschen Rahmen sind mittlerweile politische und gesellschaftliche Bewegungen festzustellen, die von Vereinigung und von Zusammenrücken gekennzeichnet sind, und es hat den Anschein, als hätten hier die christlichen Kirchen ihre neuen Rollen durchaus noch nicht sicher definiert und realisiert. Die Differenzen und Irritationen z.B. über die Zukunft des schulischen Religionsunterrichts in Ost und West, aber auch die generelle Frage nach der gesellschaftlichen Bildungs(mit)verantwortung der Kirchen erscheinen als durchaus ungeklärt. In dieser Situation an die Sprachschule für die Freiheit zu erinnern, gibt den Impuls zur weiteren Diskussion, welche Rolle und welches Gewicht Religion in Zukunft als Teil allgemeiner Bildung spielen sollte. Rainer Winkel sieht als eins von sieben wesentlichen Menschenmerkmalen (Anthropina) – und inhaltlich gewiss nicht weit von Paulo Freire und der Theologie der Befreiung entfernt – die Religion an: „Wer den Menschen das Recht auf religiöse Bildung nimmt oder verweigert, verkrüppelt ihn nicht weniger als der Antipädagoge, dem die Erziehung ein unerträgliches Ärgernis ist. […] So wie es eine politische, eine ästhetische oder wissenschaftliche Bildung gibt, gibt es eine religiöse.“20

Prof. Dr. D. Martin Bröking-Bortfeldt †

Erstveröffentlichung in: Dialogische Erziehung, 3. Jg. 1999, H. 1, S. 30-36

1 Dom Hélder Câmara, Meditation für dies Jahrhundert. Wuppertal 31984, 30.

2 Vgl. Paulo Freire, Erziehung als Praxis der Freiheit. Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten. (rororo-TB Bd. 7058) Reinbek 1977.

3 Paulo Freire, Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zu befreiender Bildungsarbeit. (rororoTB Bd. 7446) Reinbek 1981, 119; vgl. Martin Bröking-Bortfeldt, Mündig Ökumene lernen. Ökumenisches Lernen als religionspädagogisches Paradigma. (Schriftenreihe der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg) Oldenburg 1994, 118 f.

4 Vgl. 1. Korinther 15,55.57: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!“. S. dazu Ernst Lange in einer Predigt v. 5.10.1952: „[…] Viele von euch werden bereit sein zu glauben, dass in Jesus Christus wirklich so etwas wie Gottes Macht am Werk gewesen ist. Aber dann werden sie sich in der heutigen Zeit umsehen und fragen: Wo ist denn auch nur die Spur von dieser Macht, die Tote lebendig machen kann? Überall Streit und Krieg und Not und Tod. Keine Spur von Frieden. Mag also die Botschaft […] damals immerhin Wirklichkeit gewesen sein, heute ist sie ein falscher Traum wie alle anderen auch. Und nun kommt alles darauf an, ob es uns ernst ist mit unserm Zutrauen zu dem Gott, der stärker ist als der Tod und Jesus Christus auferweckt hat“; zit. bei: Ernst Lange, Dem Leben trauen. Andachten und Predigten. Bearb. u. hg. v. Martin Bröking-Bortfeldt, Rothenburg/T. 1999, 54.

5 Paulo Freire a.a.O. (s.o. Anm. 2) 115.

6 Vgl. Paulo Freire / Frei Betto, Schule, die Leben heißt. Befreiungstheologie konkret. Ein Gespräch. München 1986, 41-44.

7 Vgl. Helmut H. Koch, Ernesto Cardenal. München 1992, 167-169.

8 Gespräche über das Leben Jesu in Lateinamerika. Aufgezeichnet von Ernesto Cardenal. Gesamtausgabe. Wuppertal 1980.

9 Ebd. 9.

10 Norman Goodall (Hg.), Bericht aus Uppsala 1968. Offizieller Bericht über die vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Uppsala 4. bis 20. Juli 1968. Genf 1968, 1.

11 A.a.O. (s.o. Anm. 8) 13.

12 Ebd. 329 f.

13 A.a.O. (s.o. Anm. 3) 119.

14 Vgl. Johannes 1,14.

15 A.a.O. (s.o. Anm. 4) 342 (Predigt v. 23.12.1962).

16 Vgl. Ernst Lange, Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche. Hg. v. Rüdiger Schloz. (Edition Ernst Lange Bd. 1) München u.a. 1980.

17 Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. (rororo-TB Bd. 6830) Reinbek 1973, 9-23.

18 Ebd. 23.

19 Ebd. 9.

20 Rainer Winkel, Brauchen Kinder Religion? Oder: Von Arpinum bis Flossenbürg. In: Erziehen heute 47. Jg. H. 1/1997, 2-12; zit. 5 u. 8.

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