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25 Jahre Paulo Freire Kooperation

von Joachim Dabisch

Am 7. November 2021, bestand die Paulo Freire Kooperation 25 Jahre. Sie ist 1996 entstanden aus der Regionalgruppe Nord der Paulo Freire Gesellschaft. Die PFG war zwei Jahre zuvor auf Initiative von Joachim Dabisch und Heinz Schulze (AK Freire in der AG SPAK/ München) an der Universität Frankfurt gegründet worden. Sie sollte die Arbeit der von Manfred Peters gegründeten Europäischen Arbeitsgruppe Bewusstseinsbildung im deutschsprachigen Raum fortsetzen und vertiefen. Schon 1991 war von J. Dabisch und H. Schulze zu Freires 75. Geburtstag bei der AG SPAK ein heute noch lieferbarerer Sammelband herausgegeben worden: Befreiung und Menschlichkeit – Texte zu Paulo Freire.

Leider erwies sich der Arbeitsansatz aus München als wenig brauchbar und führte zum Scheitern eines an der Universität Oldenburg geplanten Kooperationsprojekts mit dem im Aufbau befindlichen Lettischen Erwachsenenbildungsverband in Riga. Im Laufe der Jahre wurden die Aktivitäten der PFG immer geringer, was zur Auflösung des Vereins führte. Lediglich die Berliner Regionalgruppe führt den Namen PFG weiter.

Anders in Oldenburg. Dort führte man mit einem konsequent ehrenamtlichen Konzept zahlreiche Seminare an der Universität und an außeruniversitären Einrichtungen durch. Auf Anregung des kürzlich verstorbenen Prof. Friedrich W. Busch wurde 1997 Paulo Freire die Ehrendoktorwürde der Universität Oldenburg verliehen. Die Festveranstaltung war für den 7. Juli vorgesehen, doch am 2. Mai des Jahres verstarb Paulo Freire unerwartet. An seiner Stelle nahm seine Witwe Ana Maria Freire die Ehrenurkunde entgegen. Im Anschluss veranstaltete die Evang. Akademie Loccum ein internationales Kolloquium mit Gästen wie Micha Brumlik, Moacir Gadotti, Milton Schwantes und anderen. Eingeladen war auch – auf Wunsch Freires – Jürgen Habermas, der aber ein exorbitantes Honorar forderte und auf dessen Auftritt verzichtet wurde, zumal der von Paulo Freire gewünschte Dialog mit ihm nicht mehr stattfinden konnte.

Im Jahr 2003 fand vom 27. bis 29. November an der Carl von Ossietzky Universität zu Oldenburg auf Anregung des verstorbenen Prof. Wolfgang Nitsch eine internationale Konferenz des Deutschen Instituts für Menschrechte in Zusammenarbeit mit der Paulo Freire Kooperation und dem UNESCO Institut für Pädagogik statt; „Das Recht auf Bildung für alle – Menschenrechtsbildung und die Aktualität der Pädagogik Paulo Freires.“ Organisatoren waren Claudia Lohrenscheit und Bernd Overwien vom Berliner Menschenrechtsinstitut. Gäste waren u.a. Ana Maria Freire, Peter McLaren, Manfred Peters, Volker Lenhart, Hanna Zielinska, Olgair Gomes Garcia, Antje Rothemund. Vortragenden und Zuhörer zusammenzuführen war eine bedeutende Aufgabe der Paulo Freire Kooperation zu dieser Zeit.

In den folgenden Jahren standen die Jahreskonferenzen der pfk, Lehraufträge an der Uni Oldenburg und auswärtige Vortragsreihen im Vordergrund. Auch der Aufbau des Paulo Freire Verlags mit verschiedenen Reihen (u.a. Internationale Sozialarbeit, Sozialarbeit des Südens, Pädagogische Reihe, Edition Neuer Diskurs, Schola Nova, Dialog und Diskurs, Erfurter Hefte, Lebenswelten, Aspekte der Freire-Pädagogik) stand im Vordergrund der Arbeit. Seit 1997 wird die Zeitschrift Dialogische Erziehung von der pfk herausgegeben, ab 2005 im größeren und farbigen Format. Inzwischen erscheint die D.E. im 25. Jahr und wird in zahlreichen Bibliotheken ausgelegt. Die Zeitschrift steht in der Tradition des von Paulo Freire in Genf gegründeten Institute of Cultural Action (IDAC) und den dort herausgegebenen IDAC-Documents.

Auch die mittlerweile 23 Bände des Freire-Jahrbuchs (seit 1999) sind wichtige Bausteine bei der Entwicklung und Weiterführung der pädagogischen Theorie Paulo Freires. Dialog, Situation und veränderndes Handeln sind darin die ineinandergreifenden Elemente des großen Denkers und Praktikers der Befreienden Pädagogik, Paulo Freire.

Vom 9. bis 11. November 2018 fand an der Universität Hamburg der zweite Freire-Kongress mit dem Thema Dialogisches Denken und Bildung als Praxis der Freiheit statt. Organisatoren waren Heinz-Peter Gerhardt, Stefan Berzel, Dietlinde Gipser und Heiner Zillmer. Gäste waren u.a. Dirk Oesselmann, Manfred Peters, Ronald Lutz, Christel Adick, Joachim Schroeder, Ana Cruz, Iman Schalabi, Sari Versikansa, Antonio Fernando Gouvea, Nabil Kassem, Frank Henning. Veröffentlicht wurden die Vorträge in zwei Publikationen: Widersprüche, Bd. 155, Dialogisches Handeln und Forschen sowie in: Dabisch, Giper, Zillmer (Hrsg.), Dialogisches Denken und Bildung (Paulo Freire Verlag).

In diesem Jahr hat vom 14. bis 18. Oktober unter schwierigen Corona-Bedingungen an der Paris Lodron Universität zu Salzburg ein dritter Freire-Kongress stattgefunden: „Solidarität in der globalen Gesellschaft – Dialog und Befreiung in einer digitalen Zukunft“. Beteiligt an der Vorbereitung und der Durchführung waren das Paulo Freire Zentrum, Wien, die FHS Erfurt, die Paulo Freire Kooperation, das Bundesland Salzburg, Intersol, die Western Norway University of Applied Sciences sowie 10 weitere Einrichtungen. Organisiert wurde die Tagung von Prof. Wassilios Baros und seinem Team von der Uni Salzburg. Durchgeführt wurden die über 50 Vorträge in hybrider Form, teilweise in Hörsälen, teilweise online vom Heimatort. Keynote-Vortragende waren Walter Omar Kohan mit Gerald Faschingeder, Christel Adick, Joachim Schroeder sowie Christine Zeuner. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist in Vorbereitung. Bereiterklärt für eine Publikation hat sich der Springer Verlag.

Die bewegten 25 Jahre seit Gründung der Paulo Freire Kooperation haben gezeigt, dass der Gedanke der Kooperation von grundlegender Bedeutung ist. Als Verein hätte die pfk alleine nur wenig bewegen können. Der Zuschnitt als Verein mit einem offenen Diskussionsforum durch Beiratsmitglieder und zahlreiche internationale und nationale Kontakte hat den Motor gegeben, die Ideen Paulo Freires in Erinnerung zu halten und gleichermaßen weiterzuentwickeln. Das Herzstück waren und sind immer der oder die Vorsitzende und der geschäftsführende Vorstand. Vorsitzende waren bisher: Joachim Dabisch, Stefan Berzel, Philipp Andrae und zurzeit Thomas Friedrich. In diesem Sinne wird die Paulo Freire Kooperation weiterhin arbeiten.

ältere Beiträge

20 Jahre der Paulo Freire Kooperation e.V.

von: Dr. Joachim Dabisch

Paulo Freire (1921-1997), der promovierte Jurist, gewerkschaftsnahe und basis-christliche Volkserzieher, der fast prophetische Pädagogikprofessor hat Hoffnungen geweckt und bestärkt wie nur wenige Menschen in seinem Jahrhundert. Mit seinem dialogischen Prinzip, das zurecht an Martin Buber und John Dewey erinnert, hat er neue Wege der Lernbeziehungen gezeigt. Seine Arbeit stärkte weltweit demokratische Basisprozesse. Er war der Pädagoge der Unterdrückten, der Besitzlosen und vermittelte eine Pädagogik der Hoffnung. Die Sozialpastoral Lateinamerikas und die Theologie der Befreiung wurden von ihm stark beeinflusst. Er entwickelte ab 1962 seine psychosoziale Alphabetisierungsmethode mit interdisziplinärer Begleitforschung, mit der innerhalb von 40 Unterrichtsstunden Lesen und Schreiben erlernt werden konnte. Diese Methode machte Paulo Freire berühmt und bei den Diktatoren Brasiliens verhaßt, sodass er 1964 für 7 Wochen inhaftiert war und anschließend aus seinem Land ausgewiesen wurde. In Chile, wo er Asyl fand, erarbeitete er für die UNESCO ein ähnliches Alphabetisierungsprogramm. Nach Harvard in die USA zur Gastprofessur 1968/9 eingeladen erlebte er fruchtbare diskursive Kritik und Reflexion. Der Weltkirchenrat in Genf war ihm ab 1970, besonders nach dem chilenischen Militärputsch 1973, lange Zeit eine neue Heimat. Von dort unterstützte er als Bildungsberater die jungen, aus portugiesischer Kolonialherrschaft befreiten Staaten Afrikas (insbes. Guinea-Bissau, Kapverden) und den Bildungskreuzzug im neuen Nicaragua. Als letzter Exilierter der Militärdiktatur konnte Paulo Freire 1980 wieder nach Brasilien heimkehren. Er war Mitbegründer der stärksten politischen Gruppierung, der Partei der Arbeiter (PT), schloß sich den Arbeitsgruppen des Kardinal Arns an und übernahm wesentliche Aufgaben im brasilianischen Bildungssektor.

Freires theoretischen Überlegungen sind in erster Linie aus eigenen praktischen Anwendungen und der frühen familiären Erfahrung des Hungers entstanden. Freire entwickelte in diesem Spannungsfeld seine ersten Gedanken, mit denen er später seine erfolgreiche Methode der humanisierenden Alphabetisierung und der Kulturzirkel beschreibt. „Ich bin in meiner Jugendzeit zu den Landarbeitern und Industriearbeitern in meinem Land gegangen, getrieben ohne Zweifel von meiner christlichen Bildung. Als ich anfing zu arbeiten, veranlassten mich die Lebensbedingungen dieser Klassen, Marx zu studieren… Als ich mich mit Marx befasste, fand ich keinen Grund, in der Suche nach Christus aufzuhören.“

Seine begründete Verwurzelung sowohl im Marxismus als auch im katholischen Christentum war ein Resultat der Diskussionen brasilianischer Aufklärer des Movimento de Cultura Popular. In diesem Zusammenhang wird im Rückgriff auf Hegels Dialektik der Begriff conscientização geprägt. Dieses Wort entwickelt ziemlich bald eine Eigendynamik. Ursprünglich im Sinne von „Bewusstwerdung“ innerhalb des MCP benutzt, führt erst die Berührung mit Paulo Freire und seiner Methode zu einer spezielleren Bedeutung von conscientização, durch die eine kritische Erkenntnis der Realität ermöglicht wird, der Stellung des Einzelnen zu sich selbst, zu seiner Wirklichkeit und Weltumfaßtheit.

Für Paulo Freire hat die kritische Erkenntnis der Realität notwendigerweise eine politische Dimension. Die gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes sind immer Resultate menschlichen Handelns und deshalb auch veränderbar. Seine Theorie politischen Handelns fasst er zu dem Begriff kulturelle Aktion zusammen: d.h. hier differenziert er zwischen der Aktion der Erziehung, die ein politisches Bewusstsein entwickelt, und der eigentlichen Aktion des politischen Handelns. Im Dialog vollzieht sich ein Erkenntnisakt zwischen dem Wissen um die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und dem daraus generierten Wunsch nach Veränderung dieser oft unguten Verhältnisse. Auf höherer Ebene wirkt diese Spannung als Motor, genannt kulturelle Aktion.

Da Freire den Erziehungsprozess eng verflochten mit dem eigentlichen Prozess politischen, bürgerschaftlichen Handelns sieht, leitet er daraus unterschiedliche Erziehungsformen ab. Einerseits wird ein Gesellschaftssystem, das auf Verharrung, auf die Unveränderbarkeit des passiven Soseins ausgerichtet ist, den Erziehungsprozess lediglich zur nur einseitigen Vermittlung von Wissen nutzen. Freire bezeichnet diese Situation als die concepcion bancaria, das Verhältnis zwischen dem `Bankier´ Lehrer und dem `Kreditnehmer´ Schüler. Auf der anderen Seite kann Lernen auch Begegnung sein, worin Erkenntnis nicht übertragen, sondern auf dialogische Weise gemeinsam gesucht wird. Freire nennt dies die concepcion problematizadora. Selten ist in der erziehungswissenschaftlichen Literatur das immer politisch gerichtete Verhältnis zwischen Erziehungsprozess und gesellschaftlichen Verhältnissen deutlicher herausgestellt worden. Der Lehrer ist (unbewußt) immer auch ein politischer Lehrer, selbst wenn er sich politischer Äußerungen enthält.

Für viele Menschen ergeben sich soziale Ungleichheiten. Wer nicht die Lebenssituation der Menschen mit ihren generativen Begriffen berücksichtigt, wird keine Lösungswege erkennen können. Der Ruf nach größerer Kontrolle, totalen Institutionen, langen Schulzeiten wird nie die Sehnsucht der Kinder und Jugendlichen (oder auch der `Großen´) nach Wärme, Verständnis und Geborgenheit erfüllen können. Nur eine an konkreten Problemen orientierte Methode, eine vertiefte Qualitätsverbesserung pädagogischer Arbeit und eine dialogorientierte Hinwendung zu den Menschen können wenigstens ansatzweise zu gerechteren Lösungen führen. Viele Wege im 20. Jh. haben in die Irre geführt. Möglicherweise gibt es gar keinen idealen Weg. Diejenigen, die sich selbst als menschlich, also auch suchend akzeptieren und ihre Mitmenschen bei dem Vorhaben, ihr Glück oder ihren Frieden zu finden, unterstützen, werden in der dialogischen Methode Paulo Freires ein geeignetes Hilfsmittel erhalten, mit dem sie zumindest die richtigen Fragen stellen können. Die Bereitschaft zum offenen Dialog, die Liebe zu den Menschen, der Glaube an die Bestimmung zum Sein und an die Veränderung ungerechter gesellschaftlicher Zustände sind unverzichtbare Wesenselemente einer befreienden Pädagogik.

Die Transformation des gesellschaftlichen Bewusstseins hin zu einem kritischen Bewusstsein jedes einzelnen Menschen ist das zentrale Element der Pädagogik Paulo Freires, wobei es unerheblich ist, welcher Kultur, welcher Nationalität oder welchem Sprachkreis ein Mensch angehört oder welcher persönlichen Neigung er nachgeht. Die Paulo Freire Kooperation e.V., eine wissenschaftliche Gesellschaft, gebildet 1996 an der Universität Oldenburg, ist ein internationaler Zusammenschluss von Menschen, die sich an den Ideen Paulo Freires orientieren und den Weg einer dialogorientierten Gesellschaft gehen wollen. Dazu bedarf es vieler Meinungen und tatkräftiger Initiative, um gemeinsam das Ziel einer humanen und freien Gesellschaft zu erreichen. Willkommen sind alle, die sich auf eine Pädagogik der Hoffnung einlassen möchten und die versuchen, befreiende Bildungsarbeit zu realisieren.

(Febr. 2017, Redaktion Dr.Thomas Friedrich)

# Zeitschrift Dialogische Erziehung; seit 1996, hrsg. v. PFK-e.V. Oldenburg

# Freire-Jahrbuch 1 bis 22; seit 1999, hrsg. v. Joachim Dabisch, Freire-Verlag Oldenburg

H.E. Tenorth (Hrsg): Klassiker der Pädagogik Bd.2. Von John Dewey bis Paulo Freire. C.H.Beck, München 2003

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