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Dialogische Erziehung 3-4/2020

Konrad Borst Schulen in den Wüstensand gesetzt4
Ronald Lutz Von Mythen und Fundamentalismus11
Jos Schnurer Reich ist mehr als genug27
Organisationsteam Salzburg 100 Jahre Paulo Freire − Call for Papers31
Azril Bacal Roij Self and Autonomy35
Arnold Köpcke-Duttler Achille Mbembe − Ethik eines verletzlichen Passanten42
Sari Vesikansa Dialogue as a Way out of an Oppressive School46
Arnold Köpcke-Duttler Janusz Koczak und die Einsicht in die Fehlbarkeit des Erziehers52
Jos Schnurer Rezensionen59
Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser,

Dieses Winterheft beinhaltet mittig einen Call for Papers zum 100. Geburtstag Paulo Freires im kommenden Jahr: Solidarität in der globalen Gesellschaft. Interessierte sind aufgerufen sich mit Beiträgen an diesem Kongress 2021 in Salzburg zu beteiligen.

In diesem Heft liegt Ihnen ein Beitrag von Konrad Borst über Wüstenschulgründungen im Reformgeiste Gandhis und Freires nahe Lima in Peru vor. Ronald Lutz erörtert Nationalismus und Fundamentalismus im heutigen Indien, abseits der jahrhundertealten Hindutoleranz. Einer tief menschlichen Frage geht Jos Schnurer nach: Was wird mehr, wenn wir teilen?

Azrll Bacal Roij befragt aktives Lernen, kritisches Denken und soziale Beteiligung im Erziehungsprozess. Die Debatte um Antisemitismus und kolonialen Rassismus anbetracht der Philosophie Mbembes versucht Arnold Köpcke-Duttler aufzuhellen. Sari Vesikansa hinterfragt das Regelschulwesen und sieht in Paulo Freires Ansatz der Vermittlung generativer Themen und im dialogischen Verfahren eine Herausforderung und Chance für die Lehrerschaft. Arnold Köpcke-Duttler erinnert an Janusz Korczaks Ansatz der Verankerung der Rechte der Kinder im Zusammenhang allgemeiner Menschenrechte.

Jos Schnnurer verweist in seinen Rezen-sionen einerseits auf eine Dissertation zum Thema Deutsch als Fremdsprache und den Chancen des Ansatzes Paulo Freires, andererseits auf die Notwendigkeit der Spurensuche des deutschen Kolonialismus.

Eine interessante Lektüre wünschen Ihnen

Thomas Friedrich u. Joachim Dabisch

Achille Mbembe − Ethik eines verletzlichen Passanten

Der Vorwurf des Antisemitismus

von Arnold Köpcke-Duttler

Trifft der Vorwurf zu, dass Achille Mbembe den Holocaust verharmlost habe, dass er das Existenzrecht des Staates Israel infrage stelle und das Apartheidsystem Südafrikas mit dem Holocaust vergleiche? Mbembe hat entgegnet, der Kampf gegen den Antisemitismus und den Neonazismus sei von absoluter Dringlichkeit. Weltweit seien die tiefen Wunden, die Rassismus, Sklavenhandel und Kolonialismus geschlagen haben, noch lange nicht verheilt. Mit der Ausweitung des Horizonts in Richtung auf den kolonialen Rassismus, auf die Grausamkeit und Unmenschlichkeit jeder Kolonialpolitik deutet Mbembe seine Sehnsucht nach der Über-windung einer Politik der Feind-schaft, des Endes der Leiden der Unterdrückten, nach, wie er in seiner Kritik der schwarzen Vernunft schreibt, nach der Fülle des Menschseins, das alle Menschen miteinander teilen. Gemeinsam sei uns Menschen auch die Nähe des Fernen. Die uns allen gemeinsame Welt zu schaffen, müssen wir jenen, die in der Geschichte einen Prozess der Ausschließung und Verdinglichung erfahren haben, den ihnen geraubten Teil an Menschlichkeit zurückerstatten. Mbembes Projekt einer kommenden Welt beinhaltet demnach die Befreiung von der Last der Rache, des Ressentiments. Dieser geschichtsphilosophische Entwurf folgt der Hoffnung, dass die Entstellung des Gesichts der Menschheit über-wunden werden könne in dem gemeinsamen Aufstieg zu Menschsein, in der Hervorbildung einer universellen menschlichen Gemeinschaft.

Universelle Versöhnung

Ohne nähere Nachweise ergänzt Mbembe, seine Hoffnung auf eine Aussöhnung der Menschlichkeit mit der Gesamtheit alles Leben-digen sei auch inspiriert durch bestimmte Traditionen des jüdischen und des afro-diasporischen Lebens. Er sei frei von Hass gegen eine Gruppe, ein Volk und habe nie zur Gewalt aufgestachelt. Offenbar deutet Mbembe hiermit an, dass die herrschende Politik des Staates Israel bestimmten Grunderfahrungen des Judentums wider-spreche. Er hätte diese Kritik sorgfältig begründen sollen. Folgt man dem Rabbiner Leo Baeck, einem Überlebenden der Shoah, so gehören die Überwindung des Hasses und die Feindesliebe in das Zentrum dieser Religion. Wer hasse, stehe auf der Seite derer, die Blut vergießen. Der Feind bleibe mit mir verbunden in der Einheit von Mensch und Mitmensch. So sei Frieden zu schaffen mit dem Feind – eine wahrhaft menschliche Kunst der Verwandlung von Feindseligkeit in die Ethik einer verletzlichen Brüderlichkeit.

Nun ist näher zu prüfen, ob die von Mbembe als beschämend erlebte Anschuldigung zutrifft oder nicht. Auch wenn er darauf verweist, dass der Holocaust genau genommen nicht Gegenstand seiner Forschung und seines Schreibens sei, bleibt doch festzuhalten, dass er in seiner Entgegnung den Holocaust als katastrophales Ereignis berücksichtigt, das die Menschheit als Ganze und nicht nur die Deutschen und die Juden herausfordere. Jede Absicht, die Bedeutung des Holocaust zu schmälern, liege ihm fern. Dabei wird ein Unterschied zu der bei uns verbreiteten Erinnerungskultur in der Hinsicht deutlich, dass Mbembe die Shoah in den Gesamtkontext seiner Kritik der imperialen und kolonialen Expansion rückt. Erneut beteuert er, seine Idee einer „universellen Versöhnung“ verdanke sich zu einem großen Teil bestimmten Traditionen des jüdischen Denkens. Autoren wie Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Ernst Bloch und Emmanuel Levinas gehörten zu der Grundlage für seine Beziehung zu dem Holocaust. Wenn Mbembe so argumentiert zu seiner eigenen Entlastung, so ist ihm jede okku-patorisch-taktische Absicht fremd; er hätte aber zumindest einige ihm wichtige Anstöße und Heraus-forderungen andeuten sollen, um hier überzeugend argumentieren zu können.

Kritik des Trennungswahns

In politischer Hinsicht schreibt Mbembe, das Existenzrecht des Staates Israel sei grundlegend für das Gleichgewicht der Welt. Palästina nehme einen wichtigen Platz ein in seinem Nachdenken über die kolonialen Formen der gegenwärtigen Aufteilung der Erde. Gegen jede Form des Kolonialismus sich wendend, bekräftigt er, deshalb unterstütze er nicht die israelische Politik in den besetzten Gebieten. Schließlich heißt es, Antisemitismus oder die Relativierung des Holocaust seien schreckliche Verbrechen. Zu seiner Gewissensfreiheit gehöre, dass er sich einer Zusammenarbeit mit jenen verweigere, die an der kolonialen Besetzung eines Volkes durch ein anderes Volk beteiligt seien. Kurz gesagt: Kritik der kolonialen Besetzung sei kein Antisemitismus.

Es ist also klar, dass Mbembe die Politik des Staates Israel kritisiert, insofern sie der Logik des Kolonialismus folgt. Ijoma Mangold bezieht sich in seiner Kritik auf einige Passagen der Politik der Feindschaft, erhebt den Anti-semitismusverdacht gegen Mbembe und behauptet seinen „Israelhass“. Ich übergehe den deplatzierten Vergleich mit dem unter dem Tourette-Syndrom Leidenden; Mbem-bes Gedanken zu der Kritik eines Besatzungsregimes haben nichts zu tun mit Zuckungen und herausbrech-enden Lauten. Vielmehr spricht hier ein afrikanischer Philosoph in der Sprache des durch den globalen Kapitalismus Verletzten, der die Erinnerung an den kolonialen Rassismus wachhält, insbesondere an die erniedrigende Politik der Apartheid. Mbembe leidet an dem Trennungswahn, der die Menschheit spaltet, und erinnert an das Apartheidregime in Südafrika, ohne im Übrigen die Angst der Kolonisten um ihr Leben zu übersehen. Wenn er von zwei emblematischen Manifestationen des Trennungswahns (gewiss gibt es mehr als zwei) schreibt, dem Wahn der Erniedrigung und Vernichtung, so übersieht er doch nicht in seinem Blick auf die „Vernichtung der europäischen Juden“ Unterschiede der Größenordnung und des historischen Kontextes. Schon von daher kann von einer Ignoranz dem Leiden und Sterben jüdischer Menschen gegenüber, von einer Tendenz des Antisemitismus in den mir bekannten Schriften Mbembes nicht die Rede sein.

Freilich – und da muss gefragt werden, worin Mbembe seine Hoffnung auf eine Zeit des Weltfriedens gründet – erwähnt er, der Wunsch nach Apartheid und Ausrottungsphantasien hätten sich im Lauf der Geschichte der Menschheit immer wieder verändert. Chinesen, Mongolen, Afrikaner und Araber hätten – lange vor den Europäern – riesige Territorien erobert. Aber Europa habe vielleicht erstmals in der modernen Geschichte ein neues Siedlungszeitalter globalen Ausmaßes eröffnet. Die herangezogene Literatur beweist, dass damit der von europäischen Machthabern ausgehende Kolonialismus gemeint ist mit neuen Formen der Knechtschaft.

Die zweite Passage, die Mangold heranzieht, handelt von dem Trennungsprojekt des Staates Israel. Die darunterliegenden apokalyptischen Ressourcen und Katastrophen, die Mbembe in seinem Buch Politik der Feindschaft nicht näher ausführt, seien komplexer und viel tiefer ver-wurzelt als alles, was den süd-afrikanischen Calvinismus möglich gemacht habe. In der dazugehörigen Fußnote verweist Mbembe unter anderem auf Idith Zertal: Nation und Tod. Der Holo-caust in der israelischen Öffentlichkeit. Mit diesen Andeutungen einer tiefgehenden Verwurzelung spielt Mbembe auf die unermesslich lange Leidenszeit jüdischer Menschen an, auf die Geschichte ihrer Verfolgung, auf ihren Überlebenskampf. Wenn er dann Techniken zugleich materieller und symbolischer Auslöschung er-wähnt, Verfahren und Techniken der Zerstörung von Häusern, Infrastruktur, Landschaften, Straßen und die Errichtung vom Mauern, so ist es klar, dass diese Gewalt der Unterdrückung palästinensischer Menschen nicht in den Händen der Bevölkerung Israels liegt, wohl in denen ihrer politischen Führung. Mbembe türmt sein Erschrecken und Entsetzen angesichts einer koloisierenden Siedlungspolitik auf in die heftige Kritik an einer „fanatischen Zerstörungsdynamik“, die darauf abziele, das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen und einen zur Entsorgung bestimmten Müll zu verwandeln. Folgte man dem Literaturhinweis, so waren es offenbar schmerzhafte Bilder von Trümmerbergen, die Mbembe erschüttert haben. Die politischen Urheber dieser Zerstörung benennt er nicht, was aber, Missverständnisse zu vermeiden, geboten gewesen wäre. Zudem sollte er seine Aufmerksamkeit auch zerstörten Häusern in Israel zuwenden, dem Vorwurf der Einseitigkeit zu entgegnen.

Das Gesicht des Anderen

Der Verdacht des Antisemitismus geht gleichwohl fehl, berücksichtigt man andere Passagen des genannten Buchs. Offenbar geht Mbembe davon aus, dass der Wunsch nach Apartheid zu den Kennzeichen unserer Zeit gehöre. Zugleich hält er gebannt-fassungs-los fest, dass die Geschichte der Politik, des Denkens und der Metaphysik im Westen (diese Pauschalität kann keinen Bestand haben) gesättigt seien davon. Bekanntlich hätten die Juden den Preis dafür mitten in Europa bezahlt. Zuvor hätten Neger und Indianer den Kreuzweg eröffnet. Die Geschichte ist für Mbembe eine Geschichte des Vernichtungs- und Zerstörungswahns; die Erfahrung der Missachtung, der Erniedrigung, der Entfremdung und Misshandlung durchziehe sie – mit zu kleinen Spuren der Gastlichkeit, der Menschenfreundlichkeit. An einer anderen Stelle, an der es um Kolonialismus, Faschismus und Nationalsozialismus geht, hält Mbembe eine „Politik der Ent-zivilisierung“ (Aimé Césaire) fest. Angesichts der Vernichtung der europäischen Juden gelte seit dem Holocaust das Lager als Ort einer radikalen Entmenschlichung, als Ort, an dem der Mensch die Er-fahrung mache, zum Tier zu wer-den, indem er andere menschliche Existenzen vernichte. Sichtbar wird eine Verkettung von Besetzungs- und Ausrottungskriegen, Völker-morden und anderen Massakern. Dem aus der Kolonialherrschaft stammenden Vorbild habe das Dritte Reich eine wesentliche Funktion hinzugefügt: den geplanten Massenmord. Freilich irritiert beträchtlich, dass der empfindsame Philosoph an mehreren Stellen auf Carl Schmitts Verständnis von Politik als Klärung der Freund-Feind-Konstellation zurückgreift, widersprechen dessen Gedanken (erst recht deren politische Konsequenzen) den seinigen fundamental.

Zu unterscheiden zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung Israels, ist notwendig – bis in die feinste Formulierung hinein. Daran mangelt es in den mir bekannten Schriften Mbembes zuweilen. Verantwortliche (zum Beispiel für den Besitz der Atombombe) zu benennen, ist auch deshalb notwendig, weil Mbembe, angeregt von Frantz Fanon, immer wieder auf seine Grunderfahrung von der gemein-samen Verwundbarkeit der Menschheit eingeht. Wenn es eine Hoffnung auf Befreiung gibt, dann die auf eine wechselseitige Anerkennung der Verwundbarkeit. Ohne sie und ohne universales Mitgefühl scheint Mbembe keine Überwindung des Kriegs, keine Befreiung der Kolonisierten möglich zu sein, keine Befreiung aus dem Hass heraus. Gegen die „Ausmerzung jeglichen Mitgefühls“ hofft Mbembe auf das menschliche Gefühl des Mitleids, auf die unaufgebbare Fähigkeit, sich berühren zu lassen, sich angesichts fremder Not und Verzweiflung an die eigene Verletzlichkeit zu erinnern. Gegen Ende der „Politik der Feindschaft“ dringt Mbembe zu dem Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Ethik vor, deren Ziel in letzter Instanz die Menschlichkeit sei. Wiederum ist es Fanon, der dazu aufruft, dem „Gesicht des Anderen“ zu begegnen, Gesten und Beziehungen der Fürsorge zu ermöglichen. Wolle man verletzte Menschen zum Sprechen bringen, müsse man ihre geschwächten Fähigkeiten stärken. Angesichts der extremen Verwundbarkeit wendet sich Mbembe einer „Ethik des Passanten“ zu, der Gestalt eines Menschen, der sich bemüht, einen steilen Pfad zu erklimmen. Diese Mühe, ein Mensch in einer bewohnbaren Welt zu werden, dieser schwierige Weg ist keine Frage der Geburt, der Herkunft, gar der Rasse.

Mit Menschenverachtung, Antisemitismus, Feindseligkeit ist das Gehen dieses Wegs, zu dem Mbembe ermutigt, keinesfalls zu vereinbaren. Nein, er widersteht diesen Schrecken schmachvoller Erniedrigung – mit allen Kräften und im Wissen um die eigene Schwäche.

Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler

Rechtsanwalt und Diplompädagoge

Ochsenfurt/ Unterfranken

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